Goldhamster Stupsi schob sich raschelnd die Einstreu zurecht, fischte eine Erdnuss aus der Futterschale und befreite sie mit seinen scharfen Nagezähnen lautstark aus ihrer harten Schale. Daniel spähte auf die Leuchtziffern seines Weckers: Schon elf vorbei, und Claudia war immer noch nicht zu Hause. Das konnte seinen ganzen Plan vermasseln. Seine Schwester war mit Kai ausgegangen. Das Fußballtraining war ausgefallen und Kai hatte Zeit für Claudia. Er hatte auch schon den fußballfreien Sonntag mit ihr verbracht und seither war Claudia in allerbester Stimmung, trällerte alberne Schlagerliedchen, schüttelte sich zu Discomusik und nannte Daniel „Danilein“ und „Brüderchen“.
Viertel nach elf! Jetzt sollte sie endlich nachhause kommen! „Bleib nicht so lange weg“, hatte seine Mutter gemahnt, „damit du morgen in der Schule wieder fit bist!“ Daniel wusste, solange Claudia nicht zu Hause war, würden seine Eltern nicht schlafen. So ein Mist! Die dumme Gans konnte alles verderben! Daniel lockerte den Gürtel seiner Hose und drehte sich auf die Seite. Es war nicht sehr bequem, mit Bluejeans und Sweatshirt im Bett zu liegen, aber er wollte sich nachher nicht unnötig mit Anziehen aufhalten müssen.
Goldhamster Stupsi war inzwischen satt und sauste im Affenzahn durchs Laufrad. Ein Auto näherte sich. Daniel horchte angestrengt in die Dunkelheit. Das Auto fuhr vorbei, ohne anzuhalten. Zwanzig nach elf. Stupsi hangelte kopfüber das Käfiggitter entlang. Daniel drehte sich auf die andere Seite. Wieder ein Auto. Der Auspuff röhrte. Das klang nach Kais Rostlaube. Daniel setzte sich auf und lauschte. Stupsi ließ sich in den Futternapf plumpsen und knackte geräuschvoll Maiskörner. „Sei endlich still, du Krachmacher, sonst wirst du ins Badezimmer ausquartiert!“, schimpfte Daniel zum Käfig hinüber. Das Auto hielt. Türen wurden geöffnet und wieder zugeschlagen. Er hörte Claudia leise kichern, hörte, wie sie die Haustür aufschloss. Der Golf röhrte davon. Daniel ließ sich erleichtert in die Kissen zurücksinken, als er vernahm, wie Claudia auf Strümpfen die Treppe hinaufschlich und im Bad verschwand. „Wird noch ein wenig dauern, bis sie die Zähne geputzt und die ganze Farbe aus dem Gesicht gekratzt hat, aber dann hoffe ich, dass alle Karges schlafen wie die Murmeltiere!“, dachte Daniel, knuffte sein Kopfkissen zurecht und deckte sich zu, während Stupsi vorsorglich die restlichen Körner in seinen Hamsterbacken verstaute.
Was war das? Dieses leise Piepen, das sich so hartnäckig in Daniels Bewusstsein drängte? Das Piepen schien näher zu kommen, wurde lauter, aber Daniel wollte nichts damit zu tun haben. Er dreht sich auf die andere Seite, zog die Decke über die Ohren. Das Piepen war jetzt genau neben seinem Ohr – aufdringlich und gleichmäßig – piep – piep – piep! Der Weckalarm seiner Armbanduhr! Er war eingeschlafen! Daniel setzte sich mit einem Ruck auf und stellte den Alarm ab. Halb eins – hoffentlich hatte niemand sonst das Piepen gehört! Daniel war mit einem Satz aus dem Bett. Er war jetzt hellwach, zog fix eine dunkle Windjacke über und nahm seine Schuhe in die Hand. Stupsi flitzte ausgeschlafen und unbeirrt durch sein Laufrad. Langsam und geräuschlos drückte Daniel die Türklinke herunter und verließ sein Zimmer. Auf dem Flur blieb er stehen und lauschte: Aus Claudias Zimmer war kein Laut zu hören. Daniel bewegte sich auf Zehenspitzen weiter. Wieder spitzte er die Ohren: Leises Schnarchen drang aus dem Schlafzimmer der Eltern. Daniel wartete noch ein paar Sekunden, dann zog er eine Taschenlampe aus dem Turnschuh und leuchtete die Treppe hinab. Manchmal knarrten die verflixten Stufen. Er hatte sie am Nachmittag vorsichtshalber ausgetestet und abgezählt. Lautlos wie ein Indianer auf dem Kriegspfad schlich er abwärts, in einer Hand die Schuhe, in der anderen die Taschenlampe. Über die vierte Stufe stieg er mit einem großen Schritt hinweg, die nächsten nahm er wieder einzeln, die siebte ließ er aus, die zehnte auch. Geschafft! Daniel atmete ein paar Mal tief durch, bevor er mit angehaltenem Atem die Kellertür öffnete. Sie gab nicht das geringste Geräusch von sich. Daniel nickte zufrieden. Er hatte die Angeln am Nachmittag in weiser Voraussicht sorgfältig geölt. Erst als er die Kellertür hinter sich geschlossen hatte, wagte er es, das Licht anzuknipsen und seine Schuhe anzuziehen. Die Steintreppe knarrte nicht, und die weichen Sohlen der Turnschuhe dämpften jeden Laut. Unten im Keller hatte er bereits am Nachmittag einen Spaten und kräftige Schnüre bereitgelegt. Daniel schob sein Mountainbike beiseite. Es hatte keine Beleuchtung, keinen Gepäckständer. Nein, das altmodische Tourenrad seines Vaters war für den nächtlichen Ausflug besser geeignet. Daniel befestigte den Spaten mit ein paar fachmännischen Seemannsknoten an der Querstange, was schwieriger war als gedacht, weil seine Finger dabei vor Aufregung zitterten. Hinter ein paar alten Blumentöpfen hatte er eine Pappschachtel mit den Scherben der Vase versteckt. Er zurrte sie am Gepäckständer fest und verließ, leise wie ein Einbrecher, das Haus durch den Kellereingang. Draußen sah er sich verstohlen um. Es war keine Menschenseele zu sehen. Daniel schwang sich aufs Rad und fuhr los - ohne Licht, auf dem Gehsteig. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen! Vor dem Haus der Rehbachs hielt er an. Von Jörg war noch nichts zu sehen. Daniel sah nervös auf die Uhr: fünf vor eins! Sein Herz klopfte wie wild. Dabei hatte er sich doch fest vorgenommen, kühl und überlegen zu bleiben! Da, die Seitentür der Garage ging auf! Jörg bugsierte sein Fahrrad heraus. Daniel atmete hörbar auf. Jetzt fehlte nur noch Martin. Hoffentlich hatte er nicht verschlafen! Es waren nicht mehr als zweihundert Meter zum Haus der Rödels. Als sie dort ankamen, schlug die Kirchturmuhr eins – und im nächsten Moment erschien Martin in der Kellertür.
„Mannomann!“, flüsterte Martin aufgeregt. „Beinahe hätte ich nicht kommen können. Die ganze Nacht ist meine kleine Schwester rumgegeistert. Kam dauernd in mein Zimmer. Mal hat sie ihren Teddy vermisst, dann fiel ihrer Puppe der Arm ab, und ich musste sie reparieren. Das nächste Mal hat sie behauptet, auf ihrem Bett säße ein Nachtgespenst. Aber zum Schluss ist sie dann doch noch eingeschlafen. Die kleine Kröte würde mich nämlich eiskalt verpetzen. Seid bloß froh, dass ihr euch nicht mit kleinen Schwestern herumplagen müsst!“
„Große Schwestern können das Leben auch unnötig komplizieren“, stellte Daniel fest.
Schroffenfels wirkte wie ausgestorben. Der ganze Ort lag, wie es schien, in tiefstem Schlaf, nur von Weitem hörte man einen Hund bellen. Trotzdem wagten sie noch immer nicht, die Fahrradbeleuchtung einzuschalten. Eine Vorsichtsmaßnahme, die sich als nicht unbegründet erwies. Gerade als sie den Marktplatz überquerten, schreckte das Geräusch eines herannahenden Autos die Freunde auf. Schnell versteckten sie sich in einer Hofeinfahrt. Das Auto fuhr langsam und hielt mitten auf dem Marktplatz. „Polizei“, flüsterte Jörg. Sein Herz war längst in die Hosentasche gerutscht. Die drei drückten sich mit angehaltenem Atem platt gegen die Wand – der Streifenwagen fuhr langsam weiter – die Freunde atmeten gleichzeitig aus.
Claudia ließ das Buch sinken, in dem sie gerade las, und sinnierte über den Inhalt des Romans. Er handelte von wagemutigen Kreuzrittern, kühnen Helden und schönen Ritterfräulein, die vor allen Dingen tugendhaft und fügsam waren. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie ihr Leben wohl ausgesehen hätte, wäre sie 1000 Jahre früher zur Welt gekommen – droben auf der Burg – als Claudia von Schroffenfels: Plötzlich trug sie ein unpraktisches, langes Gewand mit weiten Ärmeln, darüber ein enges Mieder, und ihr Haar bedeckte eine spitze Haube. Vor ihr stand ihr Vater: Der dunkle Anzug, den er täglich im Büro trug, hatte sich in eine rote Tunika verwandelt, unter der er tatsächlich so etwas Ähnliches wie Strumpfhosen trug. Seinem Bauch, den er immerzu vergaß einzuziehen, war er mit einem breiten Gürtel zu Leibe gerückt, an dem ein langes Schwert baumelte. Das stets kurz geschnittene, blonde Haar war gewachsen und wellte sich fast bis zur Schulter. Er musterte Claudia mit strengem Blick und sprach:
„Selbstverständlich wirst du den Ritter von Trutzenstein heiraten! Er ist unser Verbündeter!“
„Aber nein!“, rief sie entsetzt: Hugo von Trutzenstein ist alt und hässlich! Er hat Zahnlücken und Pockennarben, Säbelbeine und einen Bauch! Nein, ich will ihn nicht!“
„Die Heirat ist längst beschlossene Sache!“, sagte ihr Vater gebieterisch. „Der Ritter von Trutzenstein ist reich und mächtig! Sei froh, dass du nicht eines von den Bauernmädchen drunten im Dorf bist. Man hätte dich längst mit einem armen Schlucker verheiratet und du müsstest von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang schwer arbeiten. An deinem Rockzipfel hingen wahrscheinlich schon zwei schreiende Bälger, und du wüsstest nicht, wie du ihre hungrigen Mäuler stopfen sollst!“ Augenblicklich stand Claudia barfuß da. Das lange Gewand war verschwunden, und sie steckte stattdessen in einem derben, geflickten Sackrupfen. Das blonde Haar hing ihr strähnig um den Kopf und an ihrem Rock zerrten zwei plärrende, kleine Kinder. Sie wischte ihnen mit einem Schürzenzipfel die triefenden Nasen und die schmutzigen Gesichter ab, aber die Kleinen riefen immerfort: „Mama, wir haben Hunger!“
Claudia klappte erschrocken das Buch zu, wischte 1000 Jahre beiseite und war wieder die 17-jährige Schülerin, die überlegte, ob sie einmal als Lehrerin kleinen Steppkes das Lesen und Schreiben beibringen sollte, oder ob es nicht doch viel aufregender wäre, Journalistin zu werden. Aber die Entscheidung drängte noch nicht. Viel brennender war die Frage, was sie heute Abend anziehen sollte. Kein wallendes Gewand und keinen Sackrupfen, soviel stand jedenfalls fest. Aber erst nachdem sie dreimal den Inhalt ihres Kleiderschranks inspiziert hatte, entschied sie sich für einen Minirock und ein knappes Shirt.
Kurz darauf kam Frau Karge in ihr Zimmer. „Hallo Claudia“, sagte sie, „ich habe einen Strohblumenstrauß vom Markt mitgebracht. Er liegt noch in der Küche. Sei doch so gut, und suche nach einer passenden Vase im Schrank.“ Claudia ging hinunter, nahm den Strauß und steckte ihn in eine schlanke hohe Glasvase. Die Glasvase bekam das Übergewicht und Claudia stellte sie in den Schrank zurück. Die bauchige Porzellanvase war zu klein, und in der weißen, hohen kam der Strauß nicht zur Wirkung. Claudia schob die Vasen hin und her und begann, im nächsten Fach zu suchen. Da entdeckte sie den Saftkrug, den ihre Mutter irgendwann einmal als günstiges Sonderangebot gekauft hatte. Weil jedoch die Familie praktischerweise ihren Saft nach wie vor direkt aus der Flasche in die Gläser goss, stand er schon lange unbenutzt im Schrank. Claudia drapierte den Strauß kurzerhand in den Krug und begutachtete ihn. Ja, so gefiel er ihr.
Frau Karge war gerade im Jogginganzug die Treppe herunter gekommen. „Mama, wo sollen die Blumen denn hin?“
„Stell sie doch bitte auf den Schuhschrank neben der Eingangstür!“ Frau Karge schlüpfte in ihre Sportschuhe und band das blonde Haar zum Pferdeschwanz zusammen. „Ich geh jetzt noch eine Runde laufen. Ach ja, damit ich es nicht vergesse. Wir sind heute Abend eingeladen. Kann spät werden. Und was hast du am Abend vor?“
„Kai und ich gehen nach Steinberg in die Disco!“
„Denk an die Schule und bleib nicht so lange aus!“, mahnte Frau Karge, hängte sich ein Handtuch um den Hals und joggte zur Tür hinaus.
***
Gut gelaunt trällerte Claudia die neuesten Hits vor sich hin. Sie hantierte schon seit einer halben Stunde mit Make-up und Wimperntusche, malte mit Lippenstift und Lidschatten. Zwischendurch zupfte sie immer wieder die Frisur zurecht. Aber trotz reichlich Gel und Haarspray wollten die kurzen Strähnen nicht so recht dort stehen bleiben, wo sie nach Claudias Meinung hingehörten. Daniel streckte grinsend seinen Kopf zur Badezimmertür herein:
„He, Schwesterchen, machst du dich schön für den Bomber von Schroffenfels? Also ehrlich, ich finde ja, du siehst wie ein angemalter Igel aus!“ Daniel sah gerade noch die Geltube auf sich zufliegen und zog rechtzeitig den Kopf aus der Tür, bevor die Tube, begleitet von einem Schimpfwort, gegen das Holz klatschte.
Zu Daniels Glück läutete es an der Eingangstür. Claudia rannte die Treppe hinunter und riss die Haustür auf. Kai stand am Gartentor. „Hallo Kai, komm rein! Ich bin gleich fertig!“, rief Claudia und drückte auf den Türöffner. Sie zupfte den Minirock zurecht und schlüpfte in ein paar Schuhe mit hohen Absätzen. Als Claudia ihre Jacke vom Garderobenhaken nahm, stand Kai noch immer an der Gartentür.
„He, was ist? Warum stehst du da draußen herum wie ein Ölgötze?“
Kai lächelte Claudia verlegen an und steckte fahrig den Autoschlüssel von einer Jackentasche in die andere. „Also es ist – also wegen der Disco ...“, stotterte er.
„Ja, was ist mit der Disco?“ Kai konnte Claudias Stimme entnehmen, dass sie bereits Böses ahnte. Nervös fuhr er sich mit den Fingern über die kurzen Stoppeln, die mittlerweile nur noch an den Spitzen blond waren.
„Ich – also - ich - ich kann heute nicht mit dir in die Disco!“ Jetzt war es heraus.
„Du kannst nicht mit mir in die Disco?“ Claudias Stimme wurde schrill. „Und warum nicht?“
„Unser Fußballplatz – du weißt doch – da buddelt noch immer der alte Böckmann herum ...“
„Eben! Und darum könnt ihr nicht Fußball spielen und nicht trainieren, und du kannst mit mir in die Disco gehen!“, stellte Claudia fest.
„Wir haben herausbekommen, dass er schon seit zwei Wochen nichts mehr gefunden hat – keine Scherben, keine Mauern, kein Garnichts! Deshalb treffen wir uns heute beim ‚Raubritter‘. Wir müssen unser weiteres Vorgehen besprechen. Wir wollen zum Bürgermeister, damit er die Graberei endlich beendet!“
„Und deshalb kannst du nicht mit mir in die Disco gehen?“
„Nein.“
„Oooh! Du Schuft! Du Feigling!“ Claudias Stimme überschlug sich. Kai zuckte mit den Schultern und begann, langsam den Rückzug anzutreten. „Geh doch zu deinen blöden Fußballheinis!“, schrie Claudia. Tränen der Wut und der Enttäuschung traten ihr in die Augen.
„Aber Claudia ...“, stotterte Kai.
Claudia wollte sich umdrehen und die Tür zuschlagen – da sah sie den Krug mit den Strohblumen! Ohne zu überlegen, griff sie nach dem Krug und warf ...
Dass der Krug Kai nicht getroffen hatte, lag beileibe nicht an Kais schneller Reaktion. Claudia hatte trotz ihrer Wut nicht direkt auf Kai gezielt. Der Saftkrug war auf den Waschbetonplatten in Stücke zerschellt. Nun war die Wut verflogen. Kai war in seinem klapprigen Golf geflüchtet und Claudia fühlte sich wie das heulende Elend. Langsam bahnten sich ihre Tränen einen Weg durch die getuschten Wimpern, nahmen schwarze Farbe und hellbraunes Make-up auf ihrem Weg nach unten mit und bildeten auf ihren Wangen ein dunkles Rinnsal. Claudia schniefte. Durch den Tränenschleier blickte sie auf die Bescherung zu ihren Füßen. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Augen. Dass sie damit das Ergebnis ihrer sorgfältigen Schminkarbeit im gesamten Gesicht verwischte, war ihr egal. Ihr Blick war jetzt wieder freier. Claudia hob den Strohblumenstrauß vom Boden auf. Er war total zerfleddert. Sie würde morgen von ihrem Taschengeld einen Neuen besorgen müssen. Claudia warf den Strauß in die Mülltonne und begann, die Scherben aufzusammeln. So ein Mist! Eine neue Vase war natürlich auch fällig. Sie warf die Scherben zu den Strohblumen in den Müll, ließ den Deckel zuklappen und ging zum Haus zurück. In der Haustür stand Daniel und grinste von einem Ohr zum anderen.
„He, Schwesterchen, das war ein starker Auftritt!“, feixte er. „Schade, dass du ihn nicht getroffen hast!“ Zu Daniels Glück hatte Claudia nichts mehr zum Werfen in der Hand.
***